Kategorie-Archiv: Moderne Zeiten

FAQ Krise (7) – Volatil bis zur Halskrause

26.11.2012 – Der Fortschritt im europäischen Krisengeschehen offenbart Einblicke ins EU-Getriebe und die Positionen der beteiligten Staaten. Alle sind glühende Europäer, verfolgen aber rigoros ihre nationalen Interessen. Was geht ab auf dem Finanzparkett und warum vermehren sich eigentlich immerzu die Schulden. Hier die Zusammenfassung von FAQs unter dem Eindruck divergierender Machtkonstellationen.

Es gibt viele Mutmaßungen, wer oder was die Krise ausgelöst hat. Ein Glaubenssatz hält sich bis heute in den Talkshows und Zeitungskommentaren: Gierige Bank-Trader haben immer riskantere Finanzprodukte geschnürt und damit die Weltwirtschaft aus dem Gleichgewicht gebracht. Sind Banker auch die Totengräber des Euro?

Nicht wirklich. Banker mögen gierig nach Geld sein, auf jeden Fall sind sie phantasie- und trickreich in punkto Geldvermehrung. Diesen Auftrag übernehmen sie, das ist ihr Job und jeder erwartet, dass sie den gut machen. Niemand will Geld verlieren. Das wäre auch der Zusammenbruch der Marktwirtschaft. Jedem Angebot fehlt der Stachel, jeder Verkauf wird überflüssig. Ohne Rendite bewegen sich nur sehr wenige Rädchen. Selbst wirtschaftsferne Idealisten bekommen zu spüren, dass brachliegendes Geld nutzlos ist und unterm Kopfkissen immer wertloser wird. Ordentliche Geschäfte brauchen Kredit und ohne Hypothekendarlehen gibt es keine Häuslebauer. Auch Künstler oder ein Symphonieorchester benötigen Geldgeber, um ihre Kunst ausüben zu können. Mit fällt überhaupt kein Lebenszusammenhang ein, der da rausfällt. Selbst das Verliebtsein in ideelle Werte setzt den Zwang zum Gelderwerb nicht außer Vollzug. Making Money ist angesagt, sonst fällt man als Looser unangenehm auf. Die Bankenrettung aus der Anfangsphase der Krise und die fortlaufende Stützung der Institute unterstreicht ja die grundsätzliche Bedeutung der Geld- und Kreditwirtschaft für den Fortbestand des Gemeinwesens. Insofern sind Banken kein Bestattungsunternehmen.

Aber Banken oder deren Zweckgesellschaften akkumulieren doch letztlich die Schulden bis hin zur Zahlungsunfähigkeit …

Wenn Trader, die ihrem Arbeitgeber ein paar Milliarden Verlust eingebracht haben aus dem Verkehr gezogen werden, ist das wirklich nicht das Ende der Krise. Intensive Geldschiebereien sind eigentlich nur die Begleiterscheinung, die allenfalls zeigt, welche Summen für Arbitragegeschäfte mobilisiert werden. Im High-Frequency-Trading lässt sich das sogar auf Computer mit dafür geeigneten Algorithmen übertragen. Schwächeln die Geschäfte und fallen die Kurse fangen Banker an gegen den Euro zu spekulieren. Fallende Kurse lassen sich eben auch zu Geld machen. Allerdings beruht das dann auf Misstrauen gegenüber der Währung und der Vertrauensverlust entsteht nicht aus dem Nichts. Das macht die Sache so kompliziert. Es sind tatsächlich die Banken, die ihre vermehrungswirksamen Euro-Geschäfte an einen Punkt getrieben haben, der Misstrauen hervorruft: Es zirkulieren Berge von Wertpapieren und Finanzkontrakten, die zusammengenommen die tatsächlich vorhandenen Vermögenswerte um ein vielfaches übersteigen. Letztendlich sind solche Finanzaktiva nur behaupteter Reichtum, ihrem Gehalt nach aber nur Versprechen auf Gewinn oder – im Fall verbriefter Hypotheken – forderungsbesicherte Schulden.

Das aber ist doch genau die Grube, in die das Finanzgewerbe selbst stolpert, wenn sie ihre Geschäfte mit allerlei Verbriefungstechniken ständig erweitern und letztlich nur noch heisse Luft verkaufen oder in ihren Büchern als Aktiva bilanzieren.

Heisse Luft ist in dem Geschäft immer dabei. Da können Gerüchte die Kurse in Bewegung bringen, ein Branchenpromi macht Andeutungen in einem Interview oder Regierungsverantwortliche denken laut nach. Das alles löst Kurs- und damit Wertschwankungen aus. Man müsste jetzt etwas tiefer in die ökonomischen Zusammenhänge einsteigen und klären, wie Geldschöpfung aus sich heraus funktioniert und Schulden als Hebel für die Geldvermehrung eingesetzt werden. Auf jeden Fall will jeder, der im Geldhandel unterwegs ist seinen Schnitt machen, dafür kriegen Banker ihr Gehalt und auch die Boni für besonders gelungene Abschlüsse. Die Frage bleibt, warum aus diesen Geldgeschäften weltweit Schulden in Billionenhöhe entstehen. Das liegt sicher nicht an ein paar entgleisten Bankmanagern, die strukturierte Finanzprodukte betrügerisch am Markt plaziert haben.

Die Schadensbilanzen von Madoff & Co summieren sich schnell mal auf zig Milliarden …

Natürlich spiegeln sich Verluste irgendwann in den Bilanzen wieder. Was in den Bücher steht hat aber mit der Wirklichkeit nur wenig zu tun. Erst einmal machen Finanzmanager Geschäfte mit handelbaren Produkten und zwar so lange wie sie Käufer dafür finden. Einmal direkt im Auftrag ihrer Anleger sodann auch als Anbieter strukturierter Finanzprodukte aller Art sowie im Kreditgeschäft. Auf dieser Basis erweitern sie ihr Geschäft, ziehen selbst Kredit, um damit vielversprechende Geschäfte am Kapitalmarkt zu finanzieren oder sich zu refinanzieren. Wenn die Madoffs daraus eine persönliche Bereicherungsmaschine machen und jahrelang per Schneeballsystem Anleger reinlegen ist das ein dreister Regelverstoß. Bei Madoff summierten sich zum Zeitpunkt seiner Verhaftung die verzockten Geldsummen auf rund 50 Milliarden Euro. Es ist natürlich die Höhe des veruntreuten Geldes, was den Mann zu Fall brachte. Ohne Finanzkrise würde das Madoffsche Geldkarussell einfach weiterdrehen. Was ist aber, wenn ein Hedgefondsmanager in einer Woche aus einer Million fünzig Millionen macht, alles ganz legal abwickelt und seine zehn Prozent einbehält? Da haben auch einige schwer verloren. Aus Sicht der Ökonomen ist hier aber ein sehr effizientes Finanzgeschäft über die Bühne gegangen, riskant vielleicht, aber erfolgreich im Ergebnis.

FAQ Krise (6) – Hart gekocht, weich gespült

Flag of Maastricht

13.10.2012 – Kaum ein Tag vergeht an dem nicht neue Krisennachrichten die Runde machen. Ob der jetzt gestartete Stabilitätsmechanismus tatsächlich die internationale Finanzwelt durch seine schiere Größe beeindruckt sei dahingestellt. Ob es sich um das letzte Aufgebot oder einen Feuerlöscher mit Zuschalthebel handelt lässt sich schwer beantworten – jedenfalls ist das nicht Gegenstand des folgenden Gesprächs.

Rettungsschirm klingt beruhigend, ebenso versichern die ESM-Verantwortlichen, dass jetzt der Starke dem Schwachen die Hand reicht. Sind solche Metaphern eigentlich realistisch?

Nein, natürlich nicht. Es ist bekannt und wer will kann es überall nachlesen, daß die Krisenbewältigung in den EU-Staaten von deren Bevölkerung einen hohen Preis einfordert. Blickt man auf die Brennpunkte in Griechenland oder Spanien ist ein Verarmungsprogramm unterwegs, das dramatische Züge annimmt. Auch in den noch erfolgreichen EU-Staaten wird seit langem an der Einkommensschraube gedreht, um Produktivität und Wettbewerbskraft hoch zuhalten. Wohnungsnot und Altersarmut wird debattiert, der Niedriglohnsektor erfährt eine personelle Aufstockung ungeahnten Ausmaßes. Gleichzeitig stellen die Euro-Partner einen riesigen Geldsack hin und laden alle notleidenden Staaten ein, sich unter bestimmten Auflagen zu bedienen. Schon diese Tatsache lässt aufhorchen. Seltsamerweise schrecken die finanzschwachen Staaten vor einem Zugriff zurück, obwohl sie das Geld dringend gebrauchen könnten – ihre Bevölkerung übrigens auch, doch die marschiert in wachsenden Teilen geradewegs in die Verarmung.

Woran liegt das?

Das Öffnen der Geldschleusen ist nicht so gemeint, dass jeder kriegt, was er braucht. Nicht einmal die von Einnahme- und Zahlungsnot bedrohten Staaten. Im September beschloss der EZB-Rat ein Anleihekaufprogramm das praktisch keine Obergrenzen kennt, aber dem betroffenen Staat jede Menge Auflagen beschert. Zwar kauft die Zentralbank auch marode Staatspapiere – und erhöht damit die zirkulierende Geldmenge um eben diesen Betrag – schreibt aber dem Schuldner vor, wie er mit dem Geld zu wirtschaften hat. Das ist einerseits ein massiver Eingriff in die Haushaltssouveränität der Staaten, bedeutet aber auch in anderer Hinsicht nichts Gutes. Es regnet Geld und gleichzeitig beginnen in Athen und anderswo die Menschen geldfrei zu tauschen, um überhaupt noch an was ran zu kommen. Ganz offensichtlich zielt der freigesetzte Kredit auf etwas ganz anderes als Notlagen von der Bevölkerung abzuhalten. Die nimmt man ja geradezu in Kauf.

Das kann man aber auch ganz anders sehen, nämlich als Anstoß zur Haushaltssanierung und Wiederherstellung der nationalen Wettbewerbskraft …

Das sind die großen Überschriften, die ebenfalls so nett und vor allem einleuchtend klingen, hinter denen aber nichts anderes steckt, als der politische Wille zur gnadenlosen Durchsetzung der Gemeinschaftswährung. Zumindest sieht es im Moment so aus, als ob die führenden EU-Staaten nochmals den Versuch starten alle Euro-Verbindlichkeiten irgendwie in Kraft zu lassen also keinen Schuldenschnitt durchzuführen. Eine Gemeinschaftswährung hart wie Krupp-Stahl gewissermaßen. Das heißt freilich, dass Finanzhilfen an eben diese Bedingung geknüpft sind. EZB-Geld steht nicht frei zur Verfügung sondern steht unter dem Vorbehalt der Kontrolle. Der Geldfluss ist an ein Erfolgskriterium gebunden. Man kann das als Durchsetzung der Maastricht-Regeln – Defizitquote des Staatshaushalts von höchstens drei Prozent und Schuldenquote unterhalb 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – ansehen, aber das bekommt derzeit ohnehin keiner hin. Was bleibt ist trotz massiver Finanzkrise die Einschwörung auf die Maastricht-Kriterien aller Euro-Staaten. Den meisten Staaten steht allerdings das Wasser bis zum Hals und das liegt sicherlich nicht an Strandparty und mediterranem Schlendrian.

Trotzdem hängt von einer stabilen Euro-Währung doch einiges ab. Lohnt sich für die EU-Staaten das Festhalten am Euro nicht mehr?

Witzigerweise sind es ja die Finanzmärkte, die gegen den Euro spekulieren und das Vertrauen in diese Währung in Frage stellen. Deshalb wird auch diesem Klientel der rote Teppich ausgerollt. Selbstverständlich nimmt jeder Politiker, Wirtschaftskolumnist oder Fernsehmoderator die Geldsorgen der Normalverdiener und die Existenzbedrohung weiter Bevölkerungskreise zur Kenntnis. Aber daran ändern lässt sich leider nichts. Jedenfalls nicht jetzt, während all die Maßnahmen zur Krisenbewältigung in Gang gesetzt werden und systemische Fragen der erfolgreichen Kreditbewirtschaftung auf der Agenda stehen. Wie lässt sich das Vertrauen der Investoren zurückgewinnen und neues Kapital anlocken, darüber zerbrechen sich Finanzminister den Kopf. Anders gesagt: Wie kann man den Euro wieder zum attraktiven Geschäftsobjekt machen. Um die Finanzmärkte zu beruhigen, lassen die Euro-Partner ihre gewaltigen Programme vom Stapel in der Hoffnung, dass sich potente Geldbesitzer beeindrucken lassen und wieder vermehrt in Anleihen engagieren und darüber die Refinanzierungskosten der Staatskassen sinken.

Und was ist mit Otto Normalverbraucher?

Der kommt in diesem Geschehen als Steuerzahler und Arbeitskraft vor. Mitunter erfährt er eine gewisse Wertschätzung als Familiengründer, Kaufkraft oder Wähler. Das klingt nach viel, könnte man meinen, aber so richtig berauschend ist das alles nicht, auch wenn der Steuerzahler ja gerne zum eigentlichen Subjekt all der Maßnahmen stilisiert wird. Man erinnert in aller Bescheidenheit gern daran, dass die staatlichen Soforthilfen und Milliardenbürgschaften zur Euro-Rettung letztlich Steuergelder sind. Folglich ist der Steuerzahler eigentlich der Geldgeber …

Der zahlt ja auch die Zeche …

Na ja, er leistet seinen Beitrag zum Erfolg des großen Ganzen. Man könnte auch sagen, er zockt mit am Leistungserfolg seiner Nation. Allerdings nicht ganz freiwillig. Wer seine Abgaben dem Finanzamt vorenthält bekommt Ärger, notfalls bis zum Gerichtsvollzieher. Außerdem gibt es praktisch nichts, was nicht mit irgendeiner Steuerart belegt wäre. Ich will damit sagen, Steuerboykott wegen falscher Ausgabenpolitik lässt die öffentliche Hand nicht durchgehen. Der Steuerzahler ist so ein allgemeines, blutleeres Subjekt wie das Geld, das er abdrückt oder die Spekulationsgeschäfte, die Banken damit machen. Trotzdem dreht sich alles um diese abstrakten Protagonisten.

In Sorge um die Seele

A segment of a social network

Auf der Suche nach dem richtigen Klebstoff

24.07.2012 – Religion, Glaube und Kirche erhalten derzeit neuen Treibstoff nachdem so hässliche Vorkommnisse, wie priesterliche Knabenliebe und Sex statt Religionsunterricht in den Hintergrund gerückt sind. Kein geringerer als Jürgen Habermas und der Regensburger Erzbischof Gerhard Ludwig Müller legen Stroh ins Feuer und schaffen es in der Presse auf die vorderen Seiten. Der Personalie Müller – er rückt zum neuen Aufsichtsratsvorsitzenden der Glaubenskongregation der päpstlichen Kurie zu Rom auf – ist zu entnehmen, dass mit einem strengeren Durchgreifen hinsichtlich Kirchenräson, Abweichlern und Glaubensauslegung zu rechnen ist. Bei dem Frankfurter Kommunikationstheoretiker geht es mehr um die Grenzen des liberalen Staates und dessen Bedrohung durch allerlei Anfechtungen aus den Kraftzentren der Gesellschaft, namentlich die individualistische Auflösung des Gemeinwesens und die Vorherrschaft von Wirtschaftsinteressen. Religion, so die Überlegungen des Altbarden verschachtelten Denkens, könnte dem zerstörerischen Auseinanderstreben der Gemeinschaft Einhalt gebieten und Zusammenhalt stiften..

Dem Glaubenspräfekt Müller wird das gefallen, allerdings befindet er sich ebenfalls in Sorge angesichts der doch zahlreichen Herausforderungen in der säkularen Welt, angefangen bei der Krise Europas über Friedensgefahren, Gefährdung der Religionsfreiheit und der Menschenrechte, bis zu ethischen Fragen, die der wissenschaftliche Fortschritt – Stichwort Stammzellenforschung – regelmäßig auftischt. Angesichts seiner Amtseinführung hat er ein bißchen den Teppich gehoben und gibt Einblick in die Sichtweise der Amtskirche. Im Kern sind alle Schieflagen nämlich ganz einfach zu begradigen: Gott höchstpersönlich hat die Richtlinienkompetenz, seine Kinder haben dem zu folgen.

Und das soll sich lohnen? Aber natürlich. Der Gehorsam ist nunmal nötig, da der Mensch nicht nur aus Religion besteht, sondern von seinem Schöpfer mit zahlreichen Eigenarten ausgestattet wurde, die dem gottgleichen Ebenbild entgegenstehen. Er ist Erdenwurm, der seinen Verstand nutzt, um sein Leben zu gestalten und dabei auch Einflüsterungen von bösen Mächte unterliegt. Das geht nun schon seit ein paar tausend Jahren so. Kein Wunder, dass Teile der Bevölkerung vom rechten Weg abkommen und mit atheistischen und säkularistischen Lebenskonzeptionen sowie rein innerweltlichen Lebenszielen die universelle Macht Gottes zurückdrängen.

Diese Gruppe der Sünder sind kein Hassobjekt der Kirche. Nach christlicher Lesart steckt nämlich ein bißchen Religion in jeder Meneschenseele. Das liegt einfach, dank göttlicher Formgebung, in der menschlichen Natur und manifestiert sich in vielen weltlichen Idealen und Glaubensäußerungen. Doch ohne den katholischen Ordnungsrahmen verflüchtigt sich die religöse Substanz in Zeitgeistmoden oder inkompetenten Heilslehren. Evangelium und Bibel, so schlussfolgert Müller ohne mit der Wimper zu zucken, sind das Absperrseil der Gesellschaft gegen Chaos, Krise und Leid in dieser Welt. Gott ist die konstitutive Macht, die alles zusammenhält und einer individualisierenden Gemeinschaft wieder Halt gibt – sofern man daran glaubt.

Dieses Heilsversprechen erscheint dem Frankfurter Soziologen Habermas immer plausibler. Vernunft hin, Wissenschaft her, es muss doch etwas geben, was den auseinanderdriftenden Gesellschaftsteilen genügend Klebstoff bietet. Der Staat, so kommt es dem Interaktionstheoretiker vor, verliert im Ringen um Solidarität und gesellschaftlichen Konsens immer mehr an Boden und die Wissenschaft kann ihren Heilsanspruch – er meint wohl das Wissen wo es langgeht – nicht einlösen. Zu viele Fragen lassen sich mit wissenschaftlichen Methoden verbindlich nicht beantworten. Ohne Antworten keine Kommunikation, ohne Kommunikation kein Konsens.

Für Habermas steht schon lange fest, dass vernünftiges Denken, wenn es denn gesellschaftswirksam sein will – und wer will das nicht – dem Potential religiösen Denkens zuwenden soll. Die alten Metaphysiker schwärmen vom guten Leben im Garten Eden. Warum soll man diese inspirierende Kraft nicht hier und heute nutzbar machen, zumal sich das moderne Denken vom uralten Heilsversprechen nach Erlösung abgekoppelt hat. Zugleich erschließt sich eine Kraftquelle, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt wieder einrenken könnte und sogar den Weg in Richtung einer künftigen Weltgesellschaft ebnet. In der Phantasie eines religiös entflammten Sozialphilosophen ist alles möglich. Mit einer Ausnahme: Grundlegende Rechtssysteme gehören in die Hände des Staates. Daran beisst sich auch die göttliche Vorsehung die Zähne aus.

Krise im Dialog – Macht und Geld (5)

 

21.02.2012 – Es findet auf offener Bühne statt, trotzdem bleibt vieles  an dem Endlosstück Krise zweideutig. Im Caféhaus-Gespräch findet die Frage, wie lässt sich der Euro noch retten, kaum Beachtung. Dafür belebt sich die Diskussion bei den Stichworten Geld und Macht. Hier die dialogische Zusammenfassung, die zeigt, dass der Krisenverlauf dieses alte Thema mit neuen Aspekten befeuert.

Es gibt die Auffassung, dass der staatliche Souverän nicht dem Diktat von Banken und Industrie unterliegt, auch nicht im Krisenfall. Gleichwohl liegt ihm sehr viel daran, dass Wachstum und Geldvermehrung stattfinden, also die rechtlichen Voraussetzungen für alle wirtschaftlichen Aktivitäten gegeben sind und – siehe Rettungsschirme – einiges dafür unternimmt, dass die Euro-Wirtschaft funktionsfähig bleibt. Ist Geld die materialisierte Macht?

Es soll Ökonomen geben, die im Geld nichts anderes sehen, als ein Tausch- und Schmiermittel für den Handel und die Produktion. Die Finanzmärkte sind aus dieser Sicht Vermittler von Geld, das sie sowohl einsammeln und verwalten als auch ausgeben, um nach einer bestimmten Zeit vermehrt zurückzubekommen. EZB und Nationalbanken versorgen dieses Treiben mit den notwendigen Kreditgeldern und bilden zusammen mit den privaten Banken eine Art Geldbeschaffungssystem, das nach festen Regeln läuft und letztlich der Refinanzierung von Geschäften aller Art dient. Das kann man als harmonisches Hin und Her sehen, als vorbildhafte Marktwirtschaft zum Wohle aller. Genauer betrachtet aber steckt im Geld ganz andere Sprengkraft als landläufig kolportiert. Das Tauschmittel der Anfangsjahre hat zu seiner vermittelnden Eigenschaft noch ganz andere Qualitäten hinzugewonnen mit vielfältigen Neben- und Hebelwirkungen. Das Beispiel Griechenland zeigt eine Abhängigkeit vom Finanzmarkt und dem dort gehandelten Schmierstoff, die sogar einen ausgereiften Rechtsstaat in den Bankrott treiben kann. Offenbar beinhaltet Geld sehr viel Macht über Land und Leute. Wer darüber nicht verfügt, bekommt ein Problem. Unter bestimmten Umständen – siehe Griechenland – reicht das, um staatlichen Handlungsspielraum einzuschränken und eine intakte Gesellschaft in Armut und Verzweifelung zu stürzen.

Sie lassen aber kein gutes Haar in der Suppe. Eine Geldwirtschaft hat doch sehr viele positive Seiten, denken Sie an gut gefüllte Kaufhäuser, Autos, Haus- und Straßenbau oder Sportveranstaltungen. Es herrscht allgemeiner Konsens darüber, dass der Kapitalismus das Fundament für Wohlstand ist …

Es ist sehr verwunderlich, dass Scheine und Münzen mit denen man seine Miete bezahlt oder die Brötchen kauft ein existenzbedrohliches Potential beinhalten. Jeder kennt das bei den Sozialfällen der Gesellschaft. Die kommen nicht ohne staatliche Stütze über die Runden. Das heisst doch: Ohne Geld kann man sich nicht mal das Lebensnotwendigste leisten. Wenn Geldquellen sprudeln, steht einem hingegen der Zugang zu allen Produkten und Dienstleistungen offen. Was nicht heisst, dass man jeden Tag an der Strandbar verbringen kann, bloß weil man den Drink bezahlen kann. Um Geld wird gestritten, sei es im Konkurrenzkampf um Marktanteile, vor Gerichten, bei Einkommensverhandlungen im Personalbüro oder auf der Straße. Griechenland hat in diesem Streit die Arschkarte gezogen: Schlechte Leistungsbilanzen, schrumpfendes Bruttoinlandsprodukt, wachsender Schuldenstand des Staatshaushalts. Das Land ist gewissermaßen der Sozialfall auf Staatsebene, herbeigeführt von Investoren, die ihren Kredit aus dem Land abgezogen haben.

Ein ehernes Gesetz der Marktwirtschaft lautet, fremdes Geld musst du zurückzahlen. Schuldverhältnisse funktionieren nur auf dieser Basis. Hat Griechenland sich nicht selbst in eine schwierige Situation manövriert, indem es Kredit aufnahm ohne an die fällige Rückzahlung zu denken?

Jeder Geschäftsmann oder Endverbraucher geht zur Bank und holt sich einen Kredit. Sei es um erweiterte Geschäfte zu finanzieren, Schulden zu refinanzieren oder für den Autokauf. Der Staat hat seine Notenbank und bedient sich seinerseits kräftig am Kapitalmarkt. Auch Banken kreditieren sich untereinander. Die brauchen das Geld, um Finanzprodukte zu kaufen und zu verkaufen, als Zwischenfinanzierung für neue Anlagemöglichkeiten oder um den eigenen Wertfonds mit frischen Aktiva zu vergrößern damit Investoren das Gefühl beschleicht, dort einsteigen zu müssen. Wer sagt denn, dass Griechenland den EZB-Kredit einfach so mitgenommen hat? Die haben das Geld mit Sicherheit nicht in der Strandbar auf den Kopf gehauen. Übrigens wäre das Geld ja nicht weg, man schluckt ja Red Bull und nicht Euros. Die bleiben im Geldkreislauf und zirkulieren durch verschiedene Hände weiter. Bescheren dem Strandbarbesitzer ein Auskommen, der Getränkeindustrie üppige Gewinne. Vielleicht erhebt der Staat zu wenig Steuern auf die Getränkeindustrie, andererseits ist das Tourismusgeschäft traditionell eine solide Einnahmequelle gerade bei den Griechen.

Sie meinen, die haben eigentlich ganz richtig gewirtschaftet und geraten trotzdem in eine Schieflage?

Es heisst die Griechen haben eine katastrophale Leistungsbilanz mit immensem Importüberschuß und wenig Export. Also mehr aus dem Ausland eingekauft als dorthin verkauft. Das heisst, ausländische Firmen haben ihre Waren und Dienstleistungen in das Land reingetragen und das dort liegende Geld aus EZB-Krediten, Euro-Subventionen und Anleiheverkäufen eingeworben und entweder wieder rausgehlot oder reinvestiert, um noch mehr rauszuholen. Der Vorwurf an den griechischen Staat gipfelt an dieser Stelle eigentlich darin, dass das Finanzministerium an diesem Treiben seine Steuereinnahmen nicht hochgetrieben hat und diese Euro-finanzierte Geschäftstätigkeit nicht in mehr Haushaltsgeld ummünzen konnte. Ich weiss nicht, was Griechenland auf den EU-Markt hätte exportieren sollen. Mehr Olivenöl? Spanien produziert massenhaft davon oder andere Agrarprodukte? Mit Honig oder Zucchini lässt sich eine negative Leistungsbilanz kaum aufpolieren. Griechenland verfügt auch über kein industrielles Produktionsniveau, das international mithalten kann. Allerdings war das lange vor der Krise klar. Die Wettbewerbsfähigkeit des Landes war vor dem Euro-Beitritt nicht vorhanden und sollte eigentlich durch die Währungsunion in Gang kommen. Das ist bislang nicht gelungen.

Riots ohne Ende

10-08-2011 – Pure Kriminelle, getrieben von der blanken Lust an Zerstörung, so die offizielle Lesart, die der englische Premier David Cameron der Weltöffentlichkeit mitteilt. Dazu das Aufstocken der Polizeikräfte auf 16 000 Mann allein für London mit der Anweisung, die Ordnung in den Stadtvierteln wieder herzustellen. Das war´s denn auch. Die randalierenden Jugendlichen, die über die Stränge schlagen, erhalten eine Lektion in Sachen öffentlicher Ordnung und Respekt vor Eigentum. Und während Strafverfolger unter dem Beifall der Öffentlichkeit Jagd auf Randalierer machen, planen die Sicherheitsbehörden schon die nächsten Maßnahmen: Mehr Kontrolle der Elendsviertel und der sozialen Netzwerke, vielleicht auch Aufstockung der Gefängniskapazitäten und Überprüfung der gesetzlichen Handhabungen.

Die Aufräumarbeiten an der Basis treffen Jugendliche, die nichts zu Lachen haben. Drastische Sparprogramme verschärfen den täglichen Überlebenskampf, der immer aussichtsloser wird. Kaum mehr vorhandene Jobangebote bei ständig sinkendem Einkommensniveau. Auf einen Gutverdiener kommen hunderte mäßig bis schlecht bezahlte Mitarbeiter, die volle Leistung bringen müssen, um nicht ganz raus zu fallen. Dazu ein sich vergrößernder Bodensatz an Ausgemusterten, denen nicht nur die Lebensperspektive abhanden gekommen ist, sondern die gar nicht so richtig in Tuchfühlung mit einem geregelten Arbeitsleben gekommen sind – und wahrscheinlich auch nie kommen werden.

„Wir holen uns, was uns zusteht“, soll ein Kapuzenaktivist gesagt haben. Dann ging es los, um Elektronikläden zu stürmen oder das Schuhlager einer Verkaufskette zu plündern. Im Land des Punk und der No-Future-Generation standen plötzlich auch Autos und Häuser in Flammen. Das alles erinnert an die Krawalle in den Pariser Banlieus oder die Ausschreitungen in Athen. Aber auch an Hooligans aus der Südkurve oder vandalisierende Gruppen auf Bahnsteigen, Rummelplätzen und in Zügen. Mehr als ein Ventil um Wut abzulassen ist das nicht, aber ein Hinweis auf sehr unzufriedene Kreise der Bevölkerung.

Einfach zu nehmen, was man braucht ist natürlich ein schwerwiegendes Missverständnis in einer Gesellschaft, die zwar Überschüsse an Waren kennt, den Zugang dazu aber über Geld regelt. Pech für denjenigen, der keines hat und schrankenlose Freiheit für andere, die genügend davon haben. Wer ein Handy mitgehen lässt ohne an der Kasse zu bezahlen ist ein Kleinkrimineller. Wer darüberhinaus noch die Scheibe einschlägt und die Ladeneinrichtung zertrümmert gibt sich als handfester Krimineller zu erkennen. Ihn trifft die Wucht des öffentlichen Rechtsempfindens, der moralischen Empörung und die auf den Fuß folgende polizeiliche Verfolgung zur Wiederherstellung verletzter Gebote.

Soweit bewegt sich Aktion und Reaktion auf eingeübten Wegen. Was unter den Tisch fällt ist der Ausgangspunkt für den Kapuzenmann. Der kommt mit seiner martialischen Tour nie und nimmer an die schönen Dinge, die er so gern haben will oder von denen er meint, dass sie zu einem normalen Leben einfach dazugehören. Stattdessen übersieht er die Kleinigkeit, dass er sich an fremdem Eigentum und den Interessen, die der rechtmäßige Eigentümer damit verbindet, vergeht. Um teilnehmen zu können am gesellschaftlichen Leben und an den schönen Sachen, die das Leben so lebenswert machen, muss er den Umweg über das Geldverdienen beschreiten oder qua Elternhaus über eine ordentliche Apanage – der monatliche Sozialhilfescheck reicht nicht – verfügen.

Natürlich liegt es an ihm, wenn er die Sache nicht auf die Reihe bringt und aus der Reihe tanzt. Auch wenn er die Verhältnisse so nicht eingerichtet hat – bewegen muss er sich darin, wie jeder andere auch. Sucht er andere Wege, gibt es nur die schiefe Bahn. Dort tummeln sich alle möglichen Existenzen vom betrügerischen Nadelstreifenträger bis zum Paradiesvogel, ordinären Knacki bis zu mafiösen Rotlicht-Königen. Hält der Kapuzenträger nicht viel von dem eher traditionell geprägten Milieu gibt es noch die Drogenszene mit den unangenehmen Begleiterscheinungen gesundheitlicher Gefährdung und seelisch wie körperlichen Niedergang. Auch dort dreht sich alles ums Geld schon wegen dem regelmäßigen Nachschub und der teuren Beschaffung.

Allerdings ist es eine falsche Schlußfolgerung der aufmüpfigen Straßenkämpfer, zu meinen, es stehe ihnen etwas zu, das sie sich bei Verweigerung einfach nehmen. Die Spielregeln, wie man sich aufzuführen hat, sind längst festgelegt und haben Verfassungsrang. Der Rahmen, in dem der Punk sich bewegen darf und in dem er sich zu bewähren hat ist vorgegeben, selbst wenn es manchmal den Anschein des Gegenteils hat. Vielleicht macht das dem Kapuzenmann so zu schaffen, dass er ausrastet. Ganz sicher aber ist er kein verantwortungsloser Faulpelz, der vor lauter Anspruchsdenken vergisst zur Arbeit zu gehen. Wohin auch?

Unterdessen verfestigt sich das Bild von den marodierenden Banden in London, Liverpool und Birmingham zu dem, was immer zu hören ist, wenn Looser am Werk sind: Die Sozialproteste sind ordnungsmissachtende Eingetumsdelikte und damit undemokratische Umtriebe. Auf diese Sicht zieht sich in der allgemeinen Wahrnehmung alles zusammen, untermalt von den brennenden Häusern, gröhlenden Jugendlichen und hilflosen Polizisten. Die Regierungen ziehen durch, was sie für nötig halten und die Gesellschaft hofft, dass alles gut geht oder mobilisiert Bürgerwehren samt national gestimmten Gegenaktivisten. Störungen aus der Unterschicht sorgen zwar für Aufregung, aber das sind ja ohnehin Abgekoppelte, die es wegen ihrem brandschatzenden Aufruhr in die Nachrichten geschafft haben.

Nachtrag zu Geist & Macht

15.04.2011 – Die Guttenberg-Story ist zwar noch am Laufen, aber ein Ergebnis ist festzuhalten: Das Amt ist weg und die Schäden können sich sehen lassen. Die Eloquenz und der Charme des Adligen haben den betreuenden Doktorvater Peter Häberle derart aus dem Konzept gebracht, dass die Süddeutsche Zeitung dem Professor gleich eine Seite 3 einräumt und einen ausgewiesenen Vorzeigereporter (Heribert Prantl) auf Spurensuche schickt.

Das Ergebnis lässt sich knapp zusammenfassen: Der Rechtsgelehrte steht fassungslos vor dem größten Täuschungsmanöver, das ihm in seiner Laufbahn als hochdekorierter Wissenschaftler untergekommen ist.

Der biedere Rechtsexperte, den Prantl als „Polyhistor“ und „Genius Universalis“ bezeichnet, hat mit wissenschaftlich geschultem Verstand dem frisch gebackenen Bundestagsabgeordneten das summa cum laude umgehängt. Für eine Leistung, die aus dem Zusammenfügen von Textbausteinen aus allen möglichen Quellen besteht. Mit Wissenschaft hat das Aneinanderreihen von Suchmaschinenergebnissen nichts zu tun. Für was aber hat Peter Häberle den Herrn zu Guttenberg denn ausgezeichnet – diese Frage ist bislang ungeklärt.

Fest steht, der „Weltgeist“ hat sich von einem aufstrebendem Politiker auf´s Kreuz legen lassen. So einfach ist das, wenn sich der politische Durchsetzungswille den passenden Auftritt samt dazugehöriger charakterlicher Maskerade zulegt und damit jeden Zweifel an der eigenen Integrität als Macher und Denker ausräumt.

Die Frage, was Geist & Macht zusammenbringt, wer im Kollisionsfall unterliegt und wie sich das Verhältnis von Politik und dem Rest der Welt darstellt, ist noch nicht beantwortet. Vielleicht ist es mühsig darüber nachzudenken, vielleicht fällt anderen dazu was passendes ein. Immerhin sind sich Spitzenvertreter zweier nicht ganz unwichtiger gesellschaftlicher Bereiche begegnet und haben gezeigt, was sie voneinander wollen. Vorsichtig ausgedrückt: Der eine den akademischen Orden, der andere ein bisschen Glamour aus den Reihen der herrschenden Eliten.

Aufstand – Risse im Ich

Da haben sich französische Oppositionelle schwer ins Zeug gelegt und eine Schrift vorgelegt, die kein gutes Haar an der gegenwärtigen Ordnung lässt. Die unbekannten Schreiber kommen zu einem vernichtenden Urteil: „Das Erhalten des Ich in einem Zustand permanenten Halb-Verfalls, chronischer Halb-Ohnmacht ist das bestgehütete Geheimnis der aktuellen Ordnung der Dinge.“ Die Autoren des französischen Buches „Der kommende Aufstand“ nehmen kein Blatt vor den Mund, wenn sie an allen Ecken und Enden der Gesellschaft immer dieselben zerstörerischen Kräfte am Werk sehen. Es geht gegen die Menschen, die in Verhältnisse gezwungen werden, die nichts mehr von ihrer ursprünglichen Identität übrig lassen. Die ganze bürgerliche Welt ist zu einer grotesken Eismumie erstarrt, ein „leerer Raum, eiskalt, nur noch durchquert von registrierten Körpern, automobilen Molekülen und idealen Waren.“

Postmodern aber ausweglos
Natürlich sind das Worte, die einem gut geerdeten Mitglied der Gesellschaft niemals über die Lippen kommen. Es ist der Blickwinkel von Kritikern, die der linksmilitanten Szene entstammen, wie Nils Minkmar Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung bemerkt, allerdings um dem offen aufständischen Charakter der militanten Prosa eine gewisse Nähe zum Zeitgeist zu bescheinigen: „Auch in „Der kommende Aufstand“ geht es um die Ausweglosigkeit eines immer subtiler operierenden kapitalistischen Systems, um die „Ausweitung der Kampfzone“: von den Schlachtfeldern und den Märkten ins Private, Körperliche und Intime, um die Kolonisierung von Gedanken, Gefühlen und Genüssen durch den postmodernen Kapitalismus.“

Die Aufständischen in Frankreich halten sich indes nicht lange beim postmodernen Kapitalismus auf. Sie haben ganz andere Bilder vor Augen, als das Hin und Her beim Geschäftemachen oder die staatlichen Rettungsmaßnahmen zur Stabilisierung der Währung. Für sie ist die ganze Gesellschaft ein monströser Verführungsapparat, der mit Zuckerbrot und Peitsche heftig wütet und jeden lebensfreudigen Mitmenschen seiner ureigenen Bedürfnisse beraubt. Die Folge ist ein moderner Bourgeois, der lediglich eine blutleere Hülse repräsentiert, gut durchgestylt und pflegeleicht, ein fremdgelenktes Mainstream-Wesen eben, das macht, was es soll. Das kann doch nicht gut gehen, ahnt jeder Leser – sowohl für den Einzelnen, der merkt, dass er seinen inneren Zusammenhalt verliert und für jene scheinbar obsiegenden Kräfte, die jene menschliche Existenz zerstören, auf die sie angewisesen sind, von der sie ganz gut leben.

Atomisiert aber bei guter Laune
Allerdings sieht es auf der Gewinnerseite in den Augen der französischen Gesellschaftstkritiker überraschenderweise auch sehr öde aus. Die Autoren sind felsenfest überzeugt davon, dass den bestehenden Institutionen und dominierenden Eliten eine selbstzerstörerische Tendenz innewohnt, die dem Leidensdruck der geknechteten Seite ausgesetzt, aber nicht gewachsen ist. Im Text heisst es unmißverständlich: „Diese Gesellschaft wird bald nur noch durch die Spannung zwischen allen sozialen Atomen in Richtung einer illusorischen Heilung zusammengehalten. Sie ist ein Werk, das seine Kraft aus einem gigantischen Staudamm von Tränen zieht, der ständig kurz vor dem Überlaufen ist.“ Schön gesagt, aber sehr bemüht. Denn die Gesellschaft atomisiert jeden soweit, dass er vielleicht Risse in seinem Ich bekommt, aber in den meisten Fällen realitätstüchtig bleibt, seinen Job erledigt, Frau oder Mann samt Kinder so weit es geht bei Laune hält, seine Steuern bezahlt und nach dem nächsten Karrieresprung Ausschau hält.

Dennoch nimmt die Geschichte eine andere Wendung als erwartet: Es ist nämlich nicht die mangelnde Integrationsfähigkeit des aufschreienden, weil geschundenen Ichs sondern im Gegenteil: Die perfekte Einbindung in das Hamsterrad von Produktion, Werbung, Herrschaft und Zynismus, die den Keim der Rebellion enthält. Die Leute merken, dass mächtige Bevölkerungsgruppen sich in einer Art Kriegszustand befinden mit dem Ziel, anderen Bevölkerungsteilen den letzten Rest an Lebensfreude zu nehmen. Als Beleg listen die Autoren etwas unscharf so ziemlich jeden und alles auf, was sie als tragendes Element der etablierten Verhältnisse ansehen. Damit ist eigentlich klar, das es nur einen Ausweg gibt: Im Aufstand findet das entkräftete und angepasste Ich wieder zu sich selbst und befördert das ohnehin absterbende Bürgertum mit einem letzten Tritt in die Recyclinganlagen der Geschichte.

Revolutionäre Wurzeln
Manche Passage in dem Buch liest sich wie die leidenschaftlichen Aufrufe eines Robespierre, Morelly oder des Volkstribuns Babeuf, der noch 1797 beim Gang zur Guillotine mit Inbrust verkündete: „Ich bleibe bei der Behauptung, die Revolution ist noch nicht durchgeführt.“ In anderen Passagen beschwören die Autoren die aufkeimende Subversion aus den sozialien Bewegungen, den Bonlieus und der großen Zahl an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern. Das eigentliche Kraftzentrum des kommenden Aufstandes aber liegt im Zerfallsprozess der vorherrschenden Verhältnisse: „Es gibt keinen Grund mehr zu warten – auf eine Aufheiterung, die Revolution, die atomare Apokalypse oder eine soziale Bewegung. Noch zu warten ist Wahnsinn. Die Katastrophe ist nicht, was kommt, sondern was da ist. Wir verorten uns bereits jetzt in der Bewegung des Zusammenbruchs einer Zivilisation.“

Babeuf, der Weitermachen wollte, der die Revolution in Frankreich zu einem glücklichen Ende für alle – und nicht für eine neue Klasse an Profiteuren und Geldsäcken, wie er stets betonte – führen wollte, wurde einfach einen Kopf kürzer gemacht. Damit war es vorbei damit, was die Aktivisten und Volkstribunen der Jahre 1789 ff. nicht nur einmal geschworen haben, als sie in Paris und anderswo das Ancien Regime aus den Angeln hoben: „Wiederholen wir es nocheinmal. Das Leid hat seinen Gipfel erreicht; es kann nicht mehr schlimmer werden; es kann nur noch durch eine totale Umwälzung geheilt werden!“ Das Zitat stammt aus dem Jahr 1795. Es war die Geburtsstunde der bürgerlichen Gesellschaft.